Misteltherapie in der Palliativmedizin
von Dr. med. Wolfgang Etspüler, Eppenbrunn
Die Mistel (viscum album) ist innerhalb der Onkologie die wohl am häufigsten eingesetzte phytotherapeutische Droge. Ihr Einsatz basiert auf einer inzwischen mehr als hundertjährigen Erfahrung. Anfang des 20. Jahrhunderts führte Dr. Rudolph Steiner, ein Philosoph und Geisteswissenschaftler, die Mistel in die anthroposophische Therapie ein. Anthroposophische Ärzte haben eine besondere Art, natürliche Phänomene und Krankheitsgeschehen am Menschen zu beobachten. Man sah gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Lebensprozessen in der Mistelpflanze und den Lebensprozessen des Menschen und folgerte daraus, dass die Mistel besondere positive Eigenschaften für die Krebstherapie haben müsse. So z. B. ist die Mistel ein echter Parasit, sie wächst auf Bäumen und verwendet deren Mineralstoffe und Flüssigkeiten. Desweiteren hat sie einen vom Wirtsbaum unabhängigen Lebensrhythmus, z. B. trägt sie Früchte (weiße Beeren) im Winter. Hieraus konnte eine Parallelität zur Krebserkrankung abgeleitet werden. In Zusammenarbeit mit der Ärztin Dr. Ita Wegmann entstand im Jahre 1917 das erste Mistelinjektionspräparat mit dem Namen Iskar. Über die Jahrzehnte hinweg wurde ein großer Wissensstock an erfahrungs-heilkundlichen Informationen gesammelt.
In der neueren Zeit wurden auch systematische klinische Studien durchgeführt. So beschreiben Kienle et al. 2010 (1) in einer vergleichenden Analyse von über 1000 Literaturstellen die Ergebnisse von 36 bewertbaren Studien zur Lebensqualität von Krebspatienten, davon 26 prospektiv-randomisiert. Bei den beobachteten Ergebnissen ist interessant, dass einerseits signifikante Ergebnisse bezüglich der Tumorsituation zu beobachten waren, andererseits noch wesentlich deutlicher ein Einfluss auf die Verbesserung der Lebensqualität bestand. Gerade diese Wirkung steht für Patienten in der palliativen Phase der Behandlung einer Krebserkrankung im Vordergrund. Folgende Faktoren wurden durch die Misteltherapie signifikant verbessert (1,2):
Fatigue (Müdigkeit), Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schmerzen, körperliche Aktivität, Autonomie, emotionales Wohlbefinden, Konzentrationsfähigkeit, Depression/Angst, Reizbarkeit.
Interessanterweise war gerade bei Symptomenkomplexen, die sonst klinisch schwierig zu behandeln sind, wie Appetitlosigkeit, eine sehr deutliche Verbesserung eingetreten. In der Monografie der Kommission C beim Bundesgesundheitsamt (3) über viscum album wurden folgende Wirkungen der Misteltherapie festgehalten:
- Hemmung des Malignomwachstums ohne Beeinträchtigung gesunder Gewebe
- Steigerung der körpereigenen Abwehr und Ordnungskräfte
- Anregung der Wärmeorganisation
- Hebung von Allgemeinbefinden und Leistungsfähigkeit, auch unabhängig von der lokalen Tumorsituation
- Linderung tumorbedingter Schmerzen
Aufgrund der gut belegten und auch bei Therapeuten und Ärzten gut bekannten Wirkungsweise ist die Misteltherapie eine der häufigsten Maßnahmen in der komplementären Medizin und ungefähr so verbreitet, wie die Gabe spezieller Vitamine und Nahrungsergänzungsstoffe. Dem hat auch der Gesetzgeber Rechnung getragen, die Mistelpräparate sind im palliativmedizinischen Einsatz auf Kosten der gesetzlichen Krankenkasse verordnungsfähig.
Die Mistel ist ein Vielstoffgemisch, wobei verschiedene Substanzgruppen für die Wirksamkeit verantwortlich gemacht werden. Es finden sich Glykoproteine, Polypeptide, Peptide, Oligo- und Polysacchararide. Hieraus erklären sich die unterschiedlichen Wirkungen einzelner Mistelpräparate, da die Zusammensetzung je nach Wirtsbaum, Erntezeit und Verarbeitungsverfahren verschieden ist. Um die wissenschaftliche Aussagekraft zu verstärken wurde in manchen Studien eine sogenannte lektinstandardisierte Mistel eingesetzt. Innerhalb dieser Substanzgruppe gibt es mehrere Wirksubstanzen, die durch Induktion der Apoptose („programmierter Selbstmord“) und durch Zytotoxizität aufgrund Hemmung der ribosomalen Proteinsynthese wirken, wie manche chemischen Zytostatika.
Im klinischen Alltag spielt jedoch die Konzentration der Mistellektine im Präparat eine eher untergeordnete Rolle, da z. B. auch Antikörper gegen Mistellektine zu deren Inaktivierung führen. Klinisch relevant ist allein die biologische Wirkung im Menschen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass manche Misteln im Einsatz in der Palliativmedizin besonders milde Wirkungen haben (Helixor A ®, Iscador Q ®), andere Mistelpräparate etwas anstrengende Reizverfahren darstellen (z. B. Iscador M 5 spezial ®). Die Anstrengung resultiert aus einer Reizwirkung im Sinne einer Stimulation des Immunsystems, ähnlich der Empfindung nach einer aktiven Impfung. Mit einer Zeitverzögerung von 1 bis 2 Tagen später können allgemeine Müdigkeit, Schmerzen und Schwellungen/Rötungen an der Injektionsstelle, leichtes Fieber, etc. auftreten. Diese Reizeffekte werden in der Komplementäronkologie gezielt eingesetzt bzw. in Kauf genommen, um eine optimale Wirkung auf das Immunsystem zu erzielen.
In der Palliativmedizin verzichtet man hingegen gern auf diese etwas lästigen Symptome und verwendet Präparate, die eine geringe Reizwirkung haben bzw. weniger Kraft vom Regulationssystem des Körpers fordern. Insbesondere wurden für diesen Zweck gute Erfahrungen gemacht mit der Tannenbaummistel (z.B. Helixor A®), die auch in höheren Dosen nur selten fieberhafte Reaktionen auslöst. Bei der Dosierung ist die in der Naturheilkunde bekannte Arndt-Schulz-Regel zu berücksichtigen:
„Schwache Reize fachen die Lebenstätigkeit an, mittelstarke Reize fördern sie, starke hemmen sie, stärkste heben sie auf.“
Empfohlen wird eine einschleichende, aufsteigende Dosisreihe, wofür vom Hersteller sogenannte Serienpackungen angeboten werden. Man beginnt mit der kleinsten Dosis, z.B. Helixor A® 1 mg subcutan und beobachtet 1 bis 2 Tage die Reaktion. Tritt keine Rötung/Schwellung/Juckreiz auf, wird dann die nächst stärkere verabreicht (5 mg). So geht es weiter bis eine diskrete (!) Reaktion auftritt; diese Dosis wird dann beibehalten und muss später ggf. nochmals angepasst werden. Neben der Lokalreaktion dient zur Beurteilung der Dosis der Tagestemperaturverlauf (alle 2 Std. messen), der bei Tumorpatienten fast immer gestört ist und sich nach 1 bis 2 Wochen Misteltherapie normalisiert, wenn die Dosis stimmt.
Bei Palliativpatienten erfolgt die Injektion 3 mal pro Woche ohne Pausen. Eine intravenöse Misteltherapie sollte erfahrenen Kollegen vorbehalten
bleiben, da die Auswirkung beim Patient schwieriger zu beurteilen ist. Die häufigste Nebenwirkung ist eigentlich die zu hohe Dosierung mit zu starker Lokalreaktion, Entzündung, Juckreiz und
Schmerz. Nach einigen Tagen Pause kann wieder begonnen werden, mit höchstens ein Zehntel der letzten Gabe. Echte Allergien (Typ1 Sofortreaktion) sind selten, kommen aber vor. Die erste Gabe
sollte in der Praxis oder Klinik erfolgen, später sollten der Patient oder seine Angehörigen angelernt werden, um die Patientenautonomie zu steigern. Wie kaum ein anderes Palliativum eignet sich
die Misteltherapie dafür, dem Patient oder seinem Umfeld das Gefühl zu geben, irgendetwas (
Sinnvolles) zu tun, um den Zustand zu verbessern und selbst dazu beitragen zu können.
1 Kienle G.S., Kiene H.: Influence of viscum album L. extracts on quality of life in cancer patients. A systematic review of controlled clinical trials. Integr Cancer Ther 9 (2),142-157 (2010)
2 Piao BK et al. Impact of complementary mistletoe extract treatment on quality of life in breast, ovarian and non-small cell lung cancer patients. A prospective randomized controlled clinical trial. Anticancer Research 2004; 24 (1): 303-10
3 Bundesanzeiger Nr. 99a, 38, 04.06.1986, Monographie Viscum album,